Sektion: Wettbewerb
Frankreich 2019
Französisch
Untertitel: Englisch, Deutsch
137 Minuten
Regie: François Ozon
Weltpremiere
François Ozon macht höchst unterschiedliche Filme (Unter dem Sand, Swimmingpool, 8 Frauen,…) und sein Stil lässt sich auf keinen gemeinsamen Nenner reduzieren.
Diesmal hat er eine fast dokumentarische Form gewählt, denn es geht um die Aufdeckung von und den Umgang mit Missbrauchsfällen eines katholischen Priesters in Lyon. Er dramatisiert nicht, bleibt sachlich, teilweise ist seine Filmsprache so reduziert, dass es fast spröde wirkt.
Am Beispiel der Geschichten von hauptsächlich drei Männern, die vor 30 Jahren vom selben Priester missbraucht wurden, erzählt er, wie unterschiedlich “der” Missbrauch wirken kann.
Der erste, Alexandre, ist wohlsituiert, verheiratet, hat 5 Kinder, ist gläubiger und praktizierender Katholik. Durch Zufall bekommt er mit, wie der Priester, der ihn missbraucht hat, wieder in seiner Diözese auftaucht und auf einem Foto zusammen mit Kindern zu sehen ist. Das bringt ihn in Kontakt mit seiner eigenen Geschichte, er ist empört, versucht dafür eine Sprache zu finden und nimmt Kontakt mit seinem Bischof, Kardinal Barbarin auf, in erster Linie zum Schutz heutiger Kinder. – Wie dann mit ihm umgegangen wird, freundlich, vordergründig zugewandt, aber letztlich konsequenzlos, macht ihn sprachlos, wirkt aber weiter.
Für mich unerträgliche Szene: nachdem es zu einem Treffen zwischen Alexandre, der Psycholgin des Bistums und dem Priester gekommen ist, in dem der Priester den erwachsenen Mann immer wieder mit Vornamen anspricht, es nicht fertig bringt, so etwas wie Bedauern oder Bitte um Vergebung zu äußern, wird Alexandre dazu aufgefordert, sich mit den anderen beiden an den Händen zu fassen und gemeinam zu beten. – Das finde ich im tiefsten Sinne des Wortes unanständig und eigentlich bloß ekelhaft.
Alexandre vermutet, dass es weitere Opfer gibt und begibt sich auf die schwierige Suche. Die anderen Protagonisten sind Denis, ein leidenschaftlicher Atheist, der erst mit allem nichts zu haben will und ein völlig verstörter Emmanuel, dem der Missbrauch damals zusätzlich zu der familiär instabilen Situation den Rest gegeben hat. Gemeinsam mit anderen gründen sie den Verein „La Parole Libérée“ (das befreite Wort).
Ozon beleuchtet auch den Umgang innerhalb der Familien. Es wird erstaunlich offen über alles gesprochen. Manche inzwischen ja alte Eltern wiegeln ab oder sind entsetzt über das Engagement ihrer Söhne, andere unterstützen sie – und haben z. T. damals schon versucht, zu intervenieren. Er zeigt eine große Bandbreite und es wird deutlich, dass “die Kirche”, in dem Fall der amtierende Bischof und seine Vorgänger ihre Verantwortung nicht wahrnehmen und genommen haben, sondern abwiegeln bis zum Versprecher während einer Pressekonferenz: die Fälle sind “Grâce à Dieu” verjährt.
Der Film zeigt, wie alle um Worte ringen, versuchen, eine Sprache für das Vorgefallene zu finden, wie unterschiedlich das sein kann, wie schwierig und wie heilsam.
Im Tagesspiegel las ich, dass sich der Anwalt des Priesters darum bemüht, den Filmstart zu unterbinden.
https://www.tagesspiegel.de/kultur/berlinale-film-grace-a-dieu-katholischer-priester-will-start-eines-missbrauchsfilms-verhindern/23959932.html
Ozon zeigt, wie mutig diese Männer (und andere auch nicht) sind, wie viel Kraft und Nachdruck sie aufbringen müssen und wie dramatisch es ist, dass sie derart “abperlen” – und damit der Missbrauch weiter gehen kann; und dass Menschen, die sich innerhalb der Institution für Konsequenzen einsetzen, viel riskieren (siehe obiger Artikel).
Es gibt einen 5minütigen Zusammenschnitt der Pressekonferenz zum Film, der auch noch informativ ist: https://www.berlinale.de/de/programm/berlinale_programm/datenblatt.html?film_id=201912152