2. Film: Fortschritt im Tal der Ahnungslosen

Sektion: Forum
Deutschland 2019
Deusch, Arabisch 
Untertitel: englisch
67 Minuten
Dokumentarische Form
Regie: Florian Kunert
Weltpremiere


Diesen Film habe ich zunächst schon wegen es Titels ausgewählt, erst danach fand ich auch die Filmbeschreibung interessant, obwohl mir schleierhaft blieb, was uns erwartet.

Das Tal der Ahnungslosen ist ein alter, despektierlicher Begriff, der zu DDR-Zeiten die Gegend in Sachsen beschrieb, in der man kein West-Fernsehen und -Radio empfangen konnte und somit auf die DDR-Medien als einziger Informationsquelle angewiesen war (und kaum vorstellbar: es gab ja noch kein Internet…). Vielschichtiger Satz eines Protagonisten: „Man lebte damals ruhiger“, bei dem ich gemischte Gefühle habe.

In dieser Gegend ist die Furcht vor und Feindlichkeit gegen „Fremde“ immer wieder Thema in heutigen Medien.

Florian Kunert wurde 1989 geboren und kommt aus dieser Gegend, fünf Jahre lebte er im Ausland und studierte in Kuba Dokumentarfilmregie.

Mit diesem Film betreibt er ein Experiment, das uns nicht erklärt wird: Das „Reenactment“, also das Neuinszenieren historischer Ereignisse auf möglichst authentische Art. Dazu sah ich vor einigen Jahren mit U. in Memmingen eine großartige Ausstellung, die sich auch mit den Auswirkungen dieser Methode befasste. – Dass im Vorfeld nicht klar ist, was hier passiert, fand ich schwierig. 

Das Setting:
Es gibt eine riesige Ruine des alten Kombinats „Fortschritt“ in Neustadt, wo tausendende Menschen lebten und arbeiteten, es wurden Landmaschinen hergestellt. (Die Aufnahmen der verfallenen Gebäude erinnern mich an Fotoausflüge in Brandenburg erinnert.) Dann gibt es Menschen, die noch dort leben: ein Ehepaar, ein Chor – sind die Hauptprotagonisten aus DDR-Zeiten. Und es gibt vier syrischen Flüchtlinge, alles Männer, etwa gleichaltrig zum Regisseur, die an die alten Orte geführt werden, die wir in alten Filmaufnahmen mit viel inszeniertem Leben und den typischen Kommentaren zwischendurch gezeigt bekommen.
Diese beiden Gruppen treffen aufeinander und werden zum Nachstellen verschiedener Szenen in diesen verlassenen Landschaften und Gebäuden bewegt: Fahnenappell (z.T.tragen die Syrer dabei WSG-Uniformen), Pioniermeldungen in der Schule, aber auch einer Häuserkampfszene. Dann zeigt er auch mal Ausschnitte von Pegidademonstrationen und der Chor, den es damals schon gab und der jetzt an verschiedenen Stellen steht, singt die alte DDR-Nationalhymne (deren Text irgendwann nicht mehr gesungen werden durfte), das FDJ-Lied „Bau auf, bau auf“, das Lied „Meine Heimat, das sind nicht nur….“.

Das löst bei mir vielfältigste Gefühle aus: amüsiert, weil so skurril, erschreckt, befremdet, verstört, zu mitschämen und irritiert.

Im Berlinale-Text heißt es: Kunerts Arbeit als Regisseur ähnelt der eines Therapeuten, der sich um der komplizierten Gegenwart willen mit der Vergangenheit beschäftigt, die sich nicht so einfach nacherzählen lässt. 
https://www.berlinale.de/de/programm/berlinale_programm/datenblatt.html?film_id=201910107


Die Q&A sind spannend und bringen etwas mehr Aufschluss, den ich hier schon habe einfließen lassen, aber auch die kontroverse Rezeption des Films zu Tage. 

Wir diskutieren auch noch viel und finden vor allem interessant, dass sich nun jemand aus einer Generation an diese Themen macht, der die DDR nur noch vom Erzählen kennt (und vielleicht noch bisschen Eindruck davon in Kuba bekommen hat?).

Was ich spannend fand: Der Hauptprotagonist, damals bei „Fortschritt“ als Ingenieur tätig, war in den 70 er/80er Jahren viel in der Welt unterwegs, zeigt nun den syrischen Flüchtlingen Dias aus dem noch intakten Syrien, die diese entsprechend kommentieren. Er aktiviert seine Arabisch-Kenntnisse und übt mit seiner Frau im Auto Vokabeln.