5. Film: Mr. Jones

Sektion: Wettbewerb
Polen / Großbritannien / Ukraine 2019 
Englisch,  Ukrainisch,  Russisch,  Walisisch 
Untertitel: Deutsch
Regie: Agnieszka Holland
141 Minuten
Weltpremiere

https://www.berlinale.de/de/programm/berlinale_programm/datenblatt.html?film_id=201912053

Das ist harte Kost! – und ein Film, der auf realen Begebenheiten beruht.

Gareth Jones ist ein walisisch-stämmiger Journalist, der als Berater des ehemaligen Premierministers David Lloyd George, einem Liberalen und Vertreter der britischen Appeasement-Politik arbeitet. Seine Mutter war als Gouvernante für eine reiche Familie in der Ukraine tätig, beide Eltern sind Lehrer, er spricht neben englisch auch französisch, deutsch und russisch. Er hat 1933 kurz nach der Machtübernahme Hitler interviewt und nun will er mit Stalin sprechen. – Er hat Fragen, die ihn als politisch wachen Menschen um treiben, u.a. wo nimmt Russland all das Geld her, das es in den Aufbau der Industrie steckt? Weil er von seinem – dann ehemaligen – Arbeitgeber darin nicht ernst genommen und unterstützt wird, macht er sich im März 1933 auf eigene Faust auf den Weg nach Moskau. Sein Freund, der wichtige Informationen hatte, ist inzwischen umgebracht worden. Er lernt Walter Duranty, den Pulitzer-Preisträger und Journalisten kennen, der in Moskau ein ausschweifendes Leben führt (großartig verkörpert durch Peter Sarsgaard), findet bei ihm aber nicht die Unterstützung, die er sich vorgestellt hat und reist nun gegen alle Warnungen mit dem Zug nach Charkow in der Ukraine. Dort trifft er auf die große Hungersnot, Holomor genannt, die durch Stalins Politik ausgelöst wurde und je nach Berechnungen in den Jahren 1932/33 zwischen 3,5 – 14,5 Millionen Menschenleben kostete. 
Was er dort sieht ist entsetzlich. 
Er wird schließlich verhaftet und auf Intervention von Duranty darf er erstaunlicher Weise aus Russland ausreisen – aber: Wenn er von dem berichtet, was er erlebt hat, werden 6 ebenfalls verhaftete englische Ingenieure ermordet. Er ist nun im Zwiespalt, was tun? Er entscheidet sich für „darüber schreiben“. Duranty behauptet in eigenen Gegen-Artikeln, dass er übertreibt und das alles nicht stimmt. Ausgerechnet William Randoloph Hurst verschafft G. Jones die Möglichkeit, seine Sicht der Dinge für eine breitere Leserschaft zu publizieren. 
Im Nachspann erfahren wir, dass Gereth Jones 1935 auf einer ähnlich anmutenden Reise in der Mandschurei mit mehreren Schüssen in den Hinterkopf ermordet wurde.

Die Bilder sind überwältigend, Kamera und Schnitt sind sensationell, in dem wie sie die jeweilige Atmosphäre zeigen, einen Rhythmus herstellen, atemlos machen,… Auch in diesem Film werden historische Aufnahmen eingeblendet, hier vom glorreichen Aufbau des Sozialismus aus den 20er, 30er Jahren und das passt sehr gut. 
Der Film spielt in London, Moskau, der Ukraine und Wales, alle Orte sind mit großer Liebe zum Detail in Szene gesetzt. 
Das ist aber auch heftig, bei den Bildern in der Ukraine machen V. und ich ab und zu die Augen zu weil es uns zu viel war.

G. Jones ist enthusiastisch, engagiert und reichlich naiv. Er ignoriert alle Warnungen, begibt sich in Situationen, bei denen ich mich frage, wie er da wieder rauskommt. Ohne das Wissen, dass das nicht pure Fiktion ist, wäre es nicht glaubwürdig.
Ich muss an die vielen Intellektuellen denken, die in den 20er, 30er Jahren voller Enthusiasmus für den Sozialismus und auch für Stalin (Feuchtwanger) in die UdSSR reisten und ernüchtert wiederkamen (André Gide) oder verhaftet wurden und dort zu Tode kamen  (Carola Neher, Heinrich Vogeler u.v.a.).

Als wir nach dem Film reden, bringt V. es auf den Punkt: über allem liegt Angst! Es ist während des ganzen Films klar, dass es gefährlich ist: zu sagen, was man denkt; mit anderen zu sprechen; sich außerhalb der erlaubten Wege zu bewegen; … weil ein ständig spürbares System von Repression und Bedrohung über allem liegt, das das Individuum klein und ohnmächtig werden lässt.

Diese Atmosphäre hat Agnieszka Holland unglaublich gut hergestellt, das ist so überzeugend, dass einige andere Fragen und Unstimmigkeiten für uns nicht ins Gewicht fallen.