zweiter Tag – zweiter Film: SPK-Komplex

Nicht wichtig, aber auffällig: Wir liegen altersmäßig vermutlich noch etwas unterm Durchschnitt. 
Wie bei dem Film „Anderson“ vor einigen Jahren ähnelt die Atmosphäre einem Schultreffen nach vielen Jahren: Begeistertes in die Arme fallen sehen wir genauso wie verhaltenes gegenseitiges Beobachten. 
Hier sind wir bestimmt nicht die einzigen Therapeutinnen und V. hat die lustige Idee: Wir stellen uns alle mal kurz vor! Ich muss sehr lachen, das passt so sehr.

Sektion: Forum

von
Gerd Kroske
Deutschland 2018
Deutsch, Italienisch
Dokumentarische Form
111 Min · Farbe & Schwarz-Weiß
Weltpremiere
Der „geschmeidige“ Titel meint die Geschichte des Sozialistischen Patienten Kollektivs, das sich 1970 in Heidelberg gründete. 
Gert Koske ist ein aus Dessau stammender Filmemacher Jahrgang 1958.

Das SPK entstand im Kontext der Antipsychiatrie-Bewegung und verstand sich als Therapiegemeinschaft. Aus den anfangs 50 Patient*innen wurden zwischenzeitlich 500, die Leitung hatte Dr. Wolfgang Huber und die zugrunde liegende These war, dass alle psychiatrischen Erkrankungen durch die Gesellschaft bedingt sind, die selbst krank ist. Die bestehende Psychiatrie wurde kritisiert weil sie Patienten nur wieder „tauglich für die krankmachende Gesellschaft“ machte. Eine Forderung Hubers war: „Es darf keine therapeutische Tat geben, die nicht zuvor klar und eindeutig als revolutionäre Tat ausgewiesen worden ist“, und daraus folgerte er: „Im Sinne der Kranken kann es nur eine zweckmäßige bzw. kausale Bekämpfung ihrer Krankheit geben, nämlich die Abschaffung der krankmachenden privatwirtschaftlich-patriarchalischen Gesellschaft.“

Das SPK war ein selbstorganisiertes Experiment, Huber bisher Assistenzarzt an der Poliklinik der Universität Heidelberg, man las Hegel und Therapie hieß Einzelagitaiton. Im Laufe der Zeit radikalisierten sich einzelne Mitglieder, einige schlossen sich der RAF an.
„Ein wenig bekanntes Kapitel westdeutscher Geschichte wird hier unprätentiös und höchst beeindruckend erschlossen. Anhand von aufwendig recherchierten Dokumenten wie Akten des Innenministeriums, der Universität, Pressefotos und TV-Beiträgen, bei Ausflügen nach Stammheim und Italien sowie in Gesprächen mit Ehemaligen von SPK bzw. RAF, Anwälten und Staatsschutz entsteht ein präzises Bild des gesellschaftlichen Klimas im Deutschen Vor-Herbst. Vor allem aber kommt … eine echte Begegnung mit den Menschen vor der Kamera zustande: Wie sie sich und das SPK rückblickend sehen, wo sie Zeugnisse aus jener Zeit hervorkramen und ob ihr Widerstand ins Heute reicht…“

Ich erinnere mich an Diskusionen, in denen die Radikalisierung als folgerichtige Notwendigkeit diskutiert wurde. Das ging mir zu weit. Aber vieles aus dieser Zeit hat mich mit geprägt. Das 1978 erschienene Buch von Klaus Dörner und Ursula Plog „Irren ist menschlich“ vermittelte eine aufregende, neue Haltung und war für mich Weg weisend.

Und so sitze ich in diesem spannenden Film und lausche aufmerksam, während mir vieles aus der Vergangenheit durch den Kopf geht. 

Kritik am Film:
Die interviewten Protagonisten werden nicht namentlich benannt, das ist blöd! V. und ich raunen uns zwischendurch zu, um wen es sich handeln könnte. Zum Glück sind bei den anschließenden Q&A fast alle da und die meisten Rätsel lösen sich. 

Bemerkenswertes: 
Carmen Roll, die nach 4 Jahren Knast (davon 2 Jahre Einzelhaft) in die Klinik zu Basaglia nach Triest ging, dort Arbeit fand und so eindrucksvoll wie differenziert erzählt – und das erst gar nicht wollte. 

Lutz Taufert, der zusammen mit Karl-Heinz Dellwo während der Haft eine Erklärung zum zukünftigen Gewaltverzicht abgab. Von ihm fanden wir ein neu erschienenes Buch „Über die Grenzen“, das V. schon angefangen hat, zu lesen.
Ungeheuerlich: Er berichtet, wie er nach jahrelanger Einzelhaft zum ersten Mal Mithäftlingen vorgestellt wird. – Es sind drei (der ohnehin wenigen) verurteilte Nazimörder aus Auschwitz.

Die eindrückliche Erklärung eines Verfassungsdienstlers über das Phänomen der sich verändernden Sprache (während mitgehörter Telefonate) als Ausdruck der zunehmenden Radikalisierung.

Eine merkwürdig verlaufene Begegnung zwischen Carmen Roll und Michael von Cranach (der wesentliches zur Aufarbeitung der Psychiatriegeschichte und Euthanasie-Forschung während des Nationalsozialismus beigetragen hat), die neue Fragen aufwarf. 

Deutlich: Welchen Einfluss, die immer noch in Amt und Würden befindlichen Nazis sowohl auf die gesamte politische Entwicklung, als auch z. B. in der Psychiatrie hatten.


Vorläufiges Resümee:
Der Film zeichnet kein einfaches, geschlossenes Bild. Er wirft viele Fragen auf und wir kommen in Kontakt mit einer Zeit, die so weit weg erscheint wie der Mond von der Erde. Wir sind gedanklich und emotional mächtig in Bewegung gekommen, das wirkt noch eine Weile nach!

P.S.

Auf das ergänzende Buch zum Film bin ich vor einiger Zeit durch V. gekommen, die es geschenkt bekam. Es ist von Christian Pross, den ich schon seit meinen Studienzeiten sehr schätze und zu dem sich auch noch viel sagen ließe: